- Die Börsenweisheit „Sell in May“ hat sich in den vergangenen Jahren nicht bestätigt.
- Nach dem langen Aufwärtstrend sind Technologieaktien korrekturgefährdet.
- Europäische Werte und Mid Caps punkten mit günstiger Bewertung.
Die Kriege in Nahost und in der Ukraine halten an und die Leitzinsen sind noch nicht gesenkt. Dennoch strebten die Börsen bis Anfang April zu neuen Höchstkursen. Woran lag das?
Die Märkte leben schon seit dem vergangenen Jahr im Wesentlichen von zwei Treibern: dem Hype bei Technologieaktien aufgrund der Erwartungen an die künstliche Intelligenz und der Hoffnung auf deutliche Zinssenkungen durch die Zentralbanken. Diese Zinssenkungen sind bisher nicht erfolgt, weil die konjunkturelle Entwicklung und die Arbeitslage in den USA äußerst stabil sind. Dazu hat auch der Inflation Reduction Act von Präsident Biden beigetragen. Entsprechend hat die Weltwirtschaft eine Rezession vermieden und die Unternehmensgewinne sind stärker gewachsen als erwartet.
Früher begann im Mai die schwächere Börsenzeit. Sollte man 2024 das alte Sprichwort „Sell in May and go away“ beherzigen und Gewinne zumindest teilweise mitnehmen – zumal der Aufwärtstrend schon im April gestoppt wurde?
Der Mai-Effekt wird meines Erachtens grundsätzlich überschätzt! Er ist in den vergangenen Jahren nicht mehr eingetreten. Im Gegenteil: Die Kurse zogen bis in den Sommer hinein an. Im langjährigen Mittel war ohnehin der September der schwächste Kalendermonat. Die Treiber der Hausse sind allerdings schwächer geworden. Außerdem ist die geopolitische Lage mit den Kriegen in der Ukraine und in Israel bedrohlich. Deshalb ist aktuell größere Vorsicht angeraten, insbesondere in den besonders gut gelaufenen, korrekturanfälligen Segmenten.
Wann kommen denn jetzt die Zinssenkungen? Und fallen Sie so stark aus, wie im vergangenen Herbst erwartet?
Sie kommen später und weniger stark. Mehr als zwei Zinsschritte nach unten erwartet der Markt für die USA in diesem Jahr nicht mehr. Vor einigen Monaten lagen die Prognosen noch bei sechs Zinsschritten. Zudem bekommt die amerikanische Notenbank schon jetzt zunehmend Probleme, ihre Anleihen zu verkaufen. Da würde ein sehr niedriger Zins den Absatz noch schwieriger machen. In Europa hat EZB-Chefin Lagarde zwar die erste Zinssenkung für den Juni angedeutet. Mehr als ein oder zwei Zinsschritte seitens der EZB halte ich aber nicht für wahrscheinlich, wenn die USA nicht mitziehen.
Erwarten Sie, dass die Inflation mittelfristig wieder unter die 2-%-Marke sinkt?
Nein. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen hatte die Globalisierung die Preise seit dem Mauerfall gedrückt. Dieser Effekt ist ausgelaufen. Aktuell gibt es eher einen Trend zur Nationalisierung. Zudem haben die Zentralbanken die Geldmenge seit der Finanzkrise massiv erhöht, allein in den USA um den Faktor drei. Außerdem steigen in den Industrieländern die Arbeitskosten, weil Arbeitskräfte zunehmend knapp werden. Aus all diesen Gründen dürfte die Inflation über längere Zeit über der 2-%-Marke bleiben.
In den USA scheint sich die Euphorie um die „Glorreichen Sieben“ langsam zu legen. Befürchten Sie bei diesen Werten eine stärkere Korrektur?
Ja. Natürlich ist die künstliche Intelligenz ein Megathema, das uns in den nächsten Jahrzehnten in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und an der Börse prägen wird. Ich fürchte allerdings, dass die Märkte bei einigen Unternehmen zu viel Euphorie eingepreist haben. Auch bei Computern und Software oder beim Internet Ende der 1990er-Jahre hat es Übertreibungen gegeben, die in deutlichen Korrekturen endeten. Nvidia etwa ist ein tolles Unternehmen. Angesichts eines Umsatzes von gut 60 Milliarden US-Dollar und eines Nettogewinns von rund 30 Milliarden US-Dollar im vergangenen Jahr ist eine Marktkapitalisierung von zwischenzeitlich weit über zwei Billionen US-Dollar sehr ambitioniert. Die bisherigen Rücksetzer vor allem bei Tesla und zuletzt bei Nvidia könnten der Auftakt zu einer längeren Phase sein, in der der Markt den wahren Wert der Highflyer findet.
Europa und insbesondere Deutschland wachsen kaum. Dennoch haben die Indizes in diesem Jahr besser abgeschnitten als der amerikanische Markt. Sind dividendenstarke Value- und Quality/Growth-Aktien wieder stärker gefragt?
Die europäischen Aktien sind deutlich günstiger bewertet als die amerikanischen. Versicherer wie etwa die Hannover Rück zahlen zudem solide Dividenden. Die starke Börsenphase war von den Zuwächsen bei Large Caps und Technologiewerten geprägt. Im späteren Zyklus eines Aufwärtstrends profitieren häufiger Werte aus der Industrie und Chemie wie BASF oder auch die Werte aus der zweiten Reihe. Zuletzt haben Small und Mid Caps aufgeholt. Sie sind traditionell in Deutschland und Europa stark und meist so solide finanziert, dass sie unter höheren Zinsen weniger leiden. Wenn Europa die Leitzinsen früher senkt als die USA, könnte dies zudem den Euro im Vergleich zum Dollar schwächen und so die Exportchancen verbessern. Entsprechend spricht zurzeit einiges für Mid Caps aus dem deutschsprachigen Raum wie etwa die österreichische Mayr-Melnhof, aber auch aus Skandinavien.
Die Emerging Markets haben unter der Schwäche des chinesischen Aktienmarktes gelitten. Ist in China ein Comeback in Sicht? Oder bleiben andere asiatische Länder attraktiver?
Chinesische Aktien waren in den vergangenen Jahren wegen der Covid-Politik und der Immobilienkrise, dem nachlassenden Wachstum und der Spannungen mit den USA wenig gefragt. In den vergangenen Monaten hat sich jedoch eine Trendwende abgezeichnet. Hier gibt es nach der langen Talfahrt durchaus Aufholpotenzial, das aber durch die Geopolitik überschattet werden könnte. Indien kommt im Kreis der großen Industrienationen an und bildet zunehmend eine echte Mittelschicht mit bis zu 500 Millionen Menschen aus. Der indische Aktienmarkt ist teuer, aber langfristig aussichtsreich. Korea profitiert von hervorragenden Technologien und Industrieerzeugnissen starker Unternehmen wie Hyundai oder Samsung. Das Gleiche gilt für Japan, dessen Industrie zudem der günstige Yen in die Karten spielt. Auch Rohstoffwerte wie die brasilianische Vale sind attraktiv bewertet.
Sind Anleihen für Sie auf dem aktuellen Niveau und bei anstehenden Zinssenkungen interessant?
Interessanter als zu Nullzinszeiten sind Anleihen aktuell allemal. Aber wenn die Inflation in den USA wirklich mittelfristig auf einem höheren Niveau bleibt und die Zinssenkungen homöopathisch ausfallen, sind die Konditionen vor allem für Langläufer nicht überaus attraktiv. Es ist durchaus möglich, dass die Renditen sich in den nächsten Jahren auf Niveaus wie in den 1990er-Jahren einpendeln, also 6 % und mehr. Mit kurz- und mittelfristig fälligen Papieren sind Anleger auf der sicheren Seite und haben mitunter sogar höhere Kupons.
Gold hat zuletzt neue Höchstkurse erreicht: Lohnt es sich weiterhin, in Edelmetalle zu investieren?
Der jüngste Anstieg war fulminant, eine zwischenzeitliche Korrektur ist recht wahrscheinlich. Aber 5 % des Vermögens als echtes Gold im Safe und 5 % als XETRA-Gold sind eine Versicherung für das Depot und jeden Anleger. Die grundsätzlichen Treiber der Goldnachfrage sind intakt – instabile Währungen, Nachfrage der Zentralbanken und in den Emerging Markets.
Welche Ereignisse könnten im weiteren Jahresverlauf für die Börsen gefährlich werden?
Sprichwörtlich haben zwar „politische Börsen kurze Beine“. Aber die Veränderungen in der Geopolitik und die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Israel sind besorgniserregend. Weitere Eskalationen können den Markt durchaus zweistellig nach unten drücken. Schließlich ist abzuwarten, wie die Märkte reagieren, wenn die Luft aus den Zinssenkungsfantasien entweicht. Kommt es zu einer deutlicheren Korrektur, winken Anlegern aber wieder Kaufkurse. Grundsätzlich führt an den Aktienmärkten kein Weg vorbei – und mit Sparplänen können Anleger auch Kurstäler aussitzen.
Bei diesem Interview handelt es sich um einen redaktionellen Beitrag, der nicht die Meinung der comdirect – einer Marke der Commerzbank AG – wiedergibt. Die Auswahl der Wertpapiere und sonstigen Finanzinstrumente stellt kein Angebot, keine Aufforderung oder Empfehlung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten dar. Aktien unterliegen Kursschwankungen; damit sind Kursverluste möglich. Bei Wertpapieren, die nicht in Euro notieren, sind zudem Währungsverluste möglich. Die frühere Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Stand: 13.05.2024. Quelle: comdirect.de.