Interview Wallwitz
Interview Wallwitz
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Interview Aussichten 2022: „Die Deutschen verhalten sich paradox“

Vermögensverwalter Georg von Wallwitz über Inflationsängste, Zinserhöhungsfantasien und Aussichten für das Börsenjahr 2022.

Profilbild Wallwitz

Dr. Georg Graf von Wallwitz ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Eyb & Wallwitz Vermögens­manage­ment GmbH in München. Der studierte Mathematiker und Philosoph hat sich auch als Buchautor einen Namen gemacht. In seinem aktuellen Werk „Die große Inflation“ analysiert er die vielfältigen Umstände, die zur Hyper­inflation des Jahres 1923 geführt haben.

comdirect: Nahezu unaufhaltsam zogen die Börsen 2021 in die Höhe. Hatten Sie das angesichts der Belastungsfaktoren durch die Corona-Virus-Pandemie so erwartet?

Georg von Wallwitz: Wir haben durchaus mit einem positiven Börsenjahr gerechnet. Es war abzusehen, dass weltweit große fiskalische Impulse durch die Regierungen kommen und die Zinsen niedrig bleiben würden. Entsprechend waren auch deutliche Gewinnsteigerungen der Unternehmen gegenüber dem ersten Jahr der Pandemie absehbar. Dieses Szenario ist trotz der zwischenzeitlichen Rückschläge bei der Virusbekämpfung eingetreten.

comdirect: Das Wiederaufflammen der Covid-Virus-Pandemie und die neue Südafrika-Variante bremsen die Erholung. Dennoch wird für 2022 ein weltweiter Wachstumsschub erwartet. Sehen Sie das auch so?

Georg von Wallwitz: Ja, weil der fiskalische Impuls 2022 noch stärker ausfallen wird als im Jahr 2021. Die USA wollen in den nächsten Jahren mehr als 2 Billionen US-Dollar in die Wirtschaft stecken, in der EU läuft der Corona-Hilfsfonds mit 750 Milliarden Euro richtig an. Dieser Schub wird die Weltkonjunktur antreiben und zu weiter steigenden Unternehmensgewinnen führen. Die Rahmenbedingungen bleiben damit gut für Aktien, zumal Staatsanleihen und Immobilien im Vergleich sehr teuer sind. In einem solchen Szenario halte ich lieber gute Aktien als andere Assetklassen.

comdirect: Und Corona bereitet Ihnen kein Unbehagen?

Georg von Wallwitz: Das Pandemiegeschehen hat sich verlagert. Aktuell breitet sich das Virus vor allem im deutschsprachigen Raum und in Osteuropa aus. Grund dürften vor allem die niedrigen Impfraten sein. In Süd- und Westeuropa dagegen, den ökonomischen Sorgenkindern der Europäischen Union, liegen die Impfquoten deutlich höher. Entsprechend ist auch die Wirtschaft dort wieder gut angesprungen. Frankreich, Italien und Spanien stehen heute schon gut da. Frankreichs BIP liegt bereits über dem Vorkrisenniveau von 2019 – und dies bereits, bevor der große fiskalische Impuls kommt.

comdirect: Sie haben gerade ein aufschlussreiches Buch zur großen Inflation vor 100 Jahren geschrieben. Droht Deutschland und der Welt jetzt ein ähnliches Szenario?

Georg von Wallwitz: Die Lage ist kaum vergleichbar. Vor gut 100 Jahren gab es eine Zeitenwende und der zerstörerische Erste Weltkrieg, Revolutionen, die massive Staatsverschuldung und die hohen Reparationszahlungen stellten weit schlimmere systemische Belastungen dar. Damals waren alle Faktoren für das Entstehen einer Hyperinflation präsent. Eine solche Geldentwertung kann man heute ausschließen. Aktuell treiben vor allem noch zahlreiche Sondereffekte wie die angespannten Lieferketten, die gestiegenen Energiepreise und in Deutschland auch die Wiedererhöhung der Mehrwertsteuer die Preise. Das wird auslaufen. Aber Inflationsraten zwischen 3 % und 5 % halte ich auch über längere Zeiträume für durchaus möglich.

comdirect: Macht Ihnen das Sorgen?

Georg von Wallwitz: Nur bedingt. Den Staaten nutzen Inflation und negative Realzinsen, weil dann die Schuldenlast weniger drückt. Das gilt auch für verschuldete Unternehmen. Es gibt auch Gewinner in der Inflation. Beobachten muss man die sogenannten Zweitrunden­effekte. Also: Wie fallen die Lohnabschlüsse aus? Verstetigen sich die Preissteigerungen auch nach dem Ende der Schwierigkeiten in den Lieferketten? Wenn ja, kann sich eine Dynamik entwickeln. Aber Inflation wird nur dann wirklich ein Thema, wenn die Verbraucher ihr Geld auch ausgeben. Zurzeit aber ist die Sparquote historisch hoch und die Deutschen handeln paradox.

Die globale Energiewende erfordert in den nächsten Jahren massive Investitionen in Windräder, Fotovoltaik und Energieinfrastruktur.

Georg von Wallwitz

comdirect: Warum?

Georg von Wallwitz: Sie behaupten zwar, wahnsinnige Angst vor Inflation zu haben. Gleichzeitig haben sie immer mehr Geld auf dem Konto und zahlen dafür sogar Strafzinsen, wenn auch etwas unwillig. Würden sie wirklich an hohe Steigerungen der Inflationsrate glauben, müssten sie ihr Geld wie in den frühen 1920er-Jahren möglichst schnell ausgeben – Gold kaufen oder Schmuck, Wohnungsein­richtungen und Autos ordern. Das tun sie aber nicht – eher im Gegenteil.

comdirect: Es zeichnet sich ab, dass die Notenbanken die Zügel wieder anziehen. Wie schnell können die Leitzinsen steigen?

Georg von Wallwitz: Die US-Fed geht bereits voran. Die Bondkäufe werden zurückgefahren, schon 2022 ist mit dem Beginn des Zinserhöhungszyklus zu rechnen. In Europa ist das schwieriger. Hier leben wir im Zustand der sogenannten „Fiskalischen Dominanz“. Das heißt: Die EZB kann aktuell gar nicht mehr die Geldwertstabilität als oberste Priorität setzen. Wenn sie das täte und die Leitzinsen zur Inflationsbekämpfung mittelfristig auf 4 % oder 5 % setzen würde, käme eine Reihe EU-Staaten damit nicht zurecht und ginge dem Bankrott entgehen. Die EZB kann nicht so agieren, wie sie mag und auf mittlere Sicht eigentlich müsste. Wenn die Konjunktur in Europa anspringt und die Staaten mit mehr Steuereinnahmen bei gleichzeitig negativen Realzinsen entlastet würden, wäre die EZB über mehr Spielraum für eine Zinserhöhung glücklich. Aber vor 2024 sehe ich das nicht.

comdirect: Halten Sie angesichts der Nullzinsen in Ihren Mischfonds die Aktienquoten am obersten Limit?

Georg von Wallwitz: Aktien sind zurzeit das Mittel der Wahl. Wir haben in unseren Fonds die zulässigen Aktienquoten nahezu ausgeschöpft. Deutsche Staatsanleihen gibt es nur in Einzel­mandaten auf besonderen Wunsch von Anlegern. Bei Rentenpapieren sind wir vor allem im Hochzinsbereich unterwegs. Hier spielt neben dem niedrigen allgemeinen Zinsniveau auch die Bonität der Unternehmen eine wichtige Rolle. Da sich die Konjunkturlage verbessert, kommt das diesen Unternehmen aus dem High-Yield-Sektor sehr zugute. Wenn wir einen Bond kaufen, wollen wir damit auch Geld verdienen.

comdirect: Sind Rohstoffe und Edelmetalle wie Gold für Sie interessant?

Georg von Wallwitz: Im aktuellen Umfeld durchaus. Wir investieren in Gold, sind aber keine Goldfanatiker. Gold ist für uns kein Aktien­ersatz, eignet sich aber bei Nullzinsen sehr gut zum Cash-Parken. Zudem sollte der Goldpreis laut Theorie und historischer Erfahrung in Zeiten negativer Realzinsen eigentlich steigen. Aber bisher hat sich beim Goldpreis nicht viel getan. Vielleicht kaufen Menschen mit starken Inflationsängsten zurzeit ja Bitcoin (lacht).

comdirect: Sie auch…?

Georg von Wallwitz: Bitcoins kommen angesichts der Energieverschwendung für uns schon allein aus ESG-Gründen nicht infrage. Der Mining-Prozess ist zu schmutzig. Zudem haben Kryptowährungen bisher keine Währungsfunktion und nicht einmal Währungsersatzfunktion wie Gold.

comdirect: In welchen Branchen und Segmenten des Aktienmarkts sehen Sie 2022 die größten Chancen?

Georg von Wallwitz: Mit dem fiskalischen Impuls können einige Werte der Old Economy bessere Zeiten erleben. Chancen gibt es auch bei der grünen Infrastruktur. Zuletzt litten etwa die Hersteller von Windrädern unter dem Anstieg der Rohstoffpreise. Die globale Energiewende erfordert aber in den nächsten Jahren massive Investitionen in Windräder, Fotovoltaik und Energieinfrastruktur. Größeres Nachholpotenzial sehe ich zudem bei Healthcare. Big Pharma ist trotz Covid-Krise günstig bewertet. Wenn eine Aktie wie Novartis mit einem KGV von 13 und einer Dividendenrendite von 4 % bewertet ist, kann man aus meiner Sicht kaum etwas falsch machen.

comdirect: Und Technologiewerte?

Georg von Wallwitz: Im Technologie-Sektor sind die Platzhirsche weiter dominant und erzielen exorbitante Gewinne. Allerdings sind einige der vorher unbekannteren „Corona-Gewinner“ des Jahres 2020 in diesem Jahr stark eingebrochen und auf dem erreichten Bewertungsniveau wieder durchaus attraktiv. Die größte Gefahr für die Börsen im Allgemeinen und die Technologieaktien im Besonderen wäre ein so nachhaltiges Anziehen der Inflation, dass die Zentralbanken das Ruder ruckartig herumreißen und die Leitzinsen stärker und schneller als erwartet anheben müssten. Das würde am Markt sehr wehtun.

comdirect: Könnte dem Markt auch wehtun, was die neue Regierung beschließt?

Georg von Wallwitz: Das würde mich sehr erstaunen. Das Programm hört sich insgesamt wirtschaftlich recht gescheit an. Zudem haben politische Börsen traditionell kurze Beine. Und diesmal reichte es nicht einmal dafür. Am Tag der Bekanntgabe des Koalitionsvertrags bewegte sich die Börse gerade mal um 0,2 %. Die neue Regierung wird den Weg der Börsen kaum beeinflussen.

Bei diesem Interview handelt es sich um einen redaktionellen Beitrag, der nicht die Meinung von comdirect, sondern die eines Dritten wiedergibt. Die Auswahl der Wertpapiere und sonstigen Finanzinstrumente stellt kein Angebot, keine Aufforderung oder Empfehlung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten dar. Aktien unterliegen Kursschwankungen; damit sind Kursverluste möglich. Bei Wertpapieren, die nicht in Euro notieren, sind zudem Währungsverluste möglich. Die frühere Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Stand: 14.12.2021; Quelle: comdirect.de

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