Interview: Sell in May and go away?
Interview: Sell in May and go away?
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Interview: Sell in May? „Besser nicht!“

Nicht jede Börsenregel stimmt: Warum Anleger auch im Sommer investiert sein sollten, verrät Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank, im Interview.

comdirect: Der DAX ist fulminant ins Jahr gestartet, und die Wall Street feiert neue Rekorde. Doch wir befinden uns im Mai: Wird es Zeit, das alte Sprichwort „Sell in May and go away“ zu beherzigen?

Rober Halver

Robert Halver
hat BWL studiert und wechselte nach Stationen bei der Sparkasse Essen, der Privatbank Delbrück & Co sowie der Schweizer Privatbank Vontobel 2008 zur Baader Bank. Als Leiter Kapitalmarktanalyse verantwortet er dort die Einschätzung der internationalen Finanzmärkte.

Robert Halver: Diese Regel kann, aber sie muss nicht zutreffen. Aktuell ist die Stimmung an den Märkten grundsätzlich gut. Es gibt aus meiner Sicht keinen Grund auszusteigen. Natürlich ist eine gewisse Delle nach den ersten vier starken Börsenmonaten 2019 möglich. Aber wenn in den nächsten Wochen der Abschluss eines Handelsabkommens zwischen den USA und China gelingt und damit die Weltkonjunktur wieder Fahrt aufnimmt oder wenn die Europawahl nicht katastrophal ausgeht – warum sollte man dann keine Aktien haben?

comdirect: Eine aktuelle Analyse von Fidelity International hat gezeigt, dass Anleger im Schnitt seit 1988 gut damit gefahren sind, wenn sie zwischen Mai und September an der Seitenlinie standen. Ist das kein ausreichender Grund für Skepsis?

Robert Halver: Die Regel hat in 30 Jahren 17-mal funktioniert, 13-mal nicht. Damit ist die statistische Relevanz nicht sehr groß. Oder anders ausgedrückt: Es ist ein wenig wie mit der Wetterregel „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist“. Wenn es tatsächlich an der Börse mit dem Ausstieg im Mai und dem Einstieg im September so einfach wäre, wären alle Millionäre. Sind sie aber nicht.

comdirect: Sie meinen also, dass die Börsenregel keine Berechtigung hat?

Robert Halver: Ich will nicht sagen, dass es keine Effekte gibt, aber historisch hatte die Regel unter Umständen mehr Berechtigung als heute. Früher gab es wirklich eine Sommerpause, heute aber kann jeder von überall aus in Sekundenbruchteilen handeln. Zudem stammt die Regel aus einer Zeit, in der sich die Politik eher wenig eingemischt hat. Das hat sich massiv geändert. Als es beispielsweise 2015 im Frühsommer in Griechenland hoch herging, hat die Politik sich eingemischt – die Griechenlandrettung hat dem DAX entgegen der Börsenregel 20 % plus beschert. Solche Effekte sind einfach stärker als Saisonalitäten.

comdirect: Gucken wir uns die Realwirtschaft an. Stimmt Sie die Berichtssaison optimistisch?

Robert Halver: Schön war die Stagnation in den vergangenen Monaten nicht. Aber an der Börse wird die Zukunft gehandelt – und der Ausblick ist gar nicht so schlecht. In den USA und in China haben die jüngsten Konjunkturdaten überzeugt. Für globale Rezessionsangst sehe ich keinen Anlass. Und auch wenn Unternehmen zurzeit in Deutschland selbst klagen und den Abbau von Arbeitsplätzen ankündigen: Mit ihren Investitionen im Ausland stehen sie gut da – und davon profitieren die Gewinne und ergo die Aktionäre.

comdirect: Im DAX spürt man davon aber wenig. Ob Versorger, Banken, Automobilproduzenten – und nun auch noch Bayer: Da haben wir aktuell einige Baustellen …

Robert Halver: Da haben Sie recht. Ich bin auch kein großer Anhänger des DAX, da gibt es aktuell zu viele Fußkranke. Versorger und Banken wurden kaputt reguliert, die deutschen Automobilhersteller sind zwar billig, aber die Aussichten doch eher verhalten. Und jetzt schwächelt sogar ein DAX-Pfeiler wie Bayer. Ohnehin aber bevorzuge ich die Aktien aus der zweiten oder dritten Reihe. Unternehmen aus MDAX und SDAX sind erheblich besser aufgestellt als die DAX-Größen.

comdirect: Sind die Mid- und Small-Caps nicht auch abhängig von den Großkonzernen?

Robert Halver: In der zweiten und dritten Reihe gibt es sehr viele hoch spezialisierte Unternehmen, die stark von einem weltweiten Aufschwung profitieren. Und die beliefern ja nicht nur deutsche Konzerne, sondern Konzerne in aller Welt.

comdirect: Ein wesentlicher Teil der Stimmungsaufhellung und der Kurserholung ist auf die Notenbanken und ihre weiter expansive Geldpolitik zurückzuführen. Kann das auf Dauer gut gehen?

Robert Halver: Aus dieser Rettungsnummer kommen wir aufgrund der Überschuldung und Reformfaulheit der Euro-Staaten nie mehr heraus. Die Japaner haben seit den 1990er-Jahren eine Liquiditätshausse mit Nullzinsen. Nicht missverstehen: Ich finde diese Notenbankpolitik grundsätzlich nicht gut. Stabilitätspolitisch verdient sie die Note 6. Aber Fakt ist: Sie wirkt wie Pattex auf den Euro-Zusammenhalt. Wir werden uns wohl auf Jahrzehnte an den real existierenden Kapitalismus ohne Zins gewöhnen müssen. Darüber hinaus haben die Zentralbanken noch einiges mehr im Arsenal: negative Zinsen, Helikoptergeld. Und warum sollten Notenbanken nicht Aktien kaufen – die von Japan, der Schweiz und die der USA haben es bereits gemacht.

comdirect: Zählt also nur noch die Liquidität?

Robert Halver: Sie ist eine wichtige Bedingung. Aber auch rein fundamental verbessern sich trotz noch schwieriger Lage die Konjunkturperspektiven. Börse bezahlt eben Zukunft, nicht Vergangenheit. Ohnehin sorgen die chinesischen Konjunkturmaßnahmen auch weltweit für Impulse.

comdirect: Donald Trump hat die US-Wirtschaft zuletzt mit Steuersenkungen angeheizt. Muss er jetzt die Zeche zahlen?

Robert Halver: Da bin ich nicht so pessimistisch, zumindest mittelfristig. Die US-Märkte haben zuletzt Rekordstände erreicht. Das Wachstum ist intakt, Arbeitskosten und Steuern sind für internationale Unternehmen interessant. „America first“ motiviert sie zu Investitionen in den USA. Trump müsste sehr unklug sein, wenn er jetzt den Handelsdeal mit China nicht sucht. Er hat im vierten Quartal 2018 gemerkt: Schlechte Handelsstimmung ist auch schlecht für Aktien und damit schlecht für ihn selbst. Bis zur Präsidentenwahl im November 2020 wird Trump alles tun, um die Märkte zu stabilisieren.

comdirect: Aktuell sieht es nicht danach aus. Im Gegenteil: Trump hat China neue Zölle angedroht. Was, wenn der Handelskrieg doch eskaliert? 

Robert Halver: Sollte sich der Konflikt zwischen Amerika und China zum Welt-Handelskrieg werden, haben insbesondere europäische und deutsche Exportaktien ein Problem. Weltwirtschaftliche Unruhe bremst die Konsum- und Investitionslust. Hühner, die keine Ruhe finden, legen eben keine Eier. Den Aktienbörsen würde dann das fundamentale Standbein wegbrechen, das die konjunkturelle Hoffnungshausse seit Jahresanfang gestützt hat. Das Standbein Liquiditätshausse ist zwar noch vorhanden. Aber bekanntlich fällt es schwer, nur auf einem Bein zu stehen.

comdirect: Für wie wahrscheinlich halten Sie dieses Szenario?

Robert Halver: Unter normalen Bedingungen würde der gesunde Menschenverstand solche (handels-)politischen Irrwege ausschließen. Aber was ist heutzutage noch normal. Heutzutage ist alles möglich, auch das Gegenteil.

comdirect: Angenommen, die Verhandlungen zwischen China und den USA sind erfolgreich: Welche Märkte und Branchen sind für Sie aktuell besonders interessant?

Robert Halver: Die Emerging Markets sind wieder sehr attraktiv bewertet. Dabei würde ich hier Asien den südamerikanischen Märkten deutlich vorziehen. Asien hat aus der Krise vor 20 Jahren gelernt und macht aktuell sehr viel richtig: Es wird verstärkt in Infrastruktur, Digitalisierung und die Stärkung des Binnenmarktes investiert. Auch für Südkorea und Indonesien bin ich optimistisch.

comdirect: …und was ist mit Europa?

Robert Halver: Europa ist konjunkturell weiterhin hinten dran. Politisch und stimmungsmäßig hängt viel vom Ausgang der Europawahlen ab. Grundsätzlich aber kann man sich auf die Unterstützung der EZB verlassen, und die europäischen Unternehmen sind weltweit gut aufgestellt. Die Standortdebatte könnte zunehmen, aber für die Aktienseite ist das weniger wichtig. Wenn Trump in seiner Handelspolitik die Schrauben stärker anzieht, werden europäische Unternehmen u. U. mehr Standorte in den USA eröffnen und dort Arbeitsplätze schaffen. Wir werden dann vielleicht unseren neuen Mercedes aus den USA importieren. Den Gewinnen bei Daimler ist es egal, wo sie herkommen.

comdirect: Neben dem Handelskrieg belastet der Brexit die Wirtschaft. Erwarten Sie weitere Störfeuer?

Robert Halver: Zurzeit eher weniger. Einen schmutzigen Brexit wird es nicht geben. Die Europäer haben daran kein Interesse und die Engländer auch nicht – sie wollen sich wohl kaum von Baumrinde im Hyde Park ernähren. Bei der Europawahl werden die Skeptiker wohl zulegen, aber keinen Erdrutsch verursachen. Schuldenkrisen werden mit billigem Geld zugekleistert. Und was in Europa nicht passt, wird passend gemacht. Das größte Risiko besteht meines Erachtens, wenn der Handelskonflikt zwischen den USA, China und irgendwann dann auch Europa eskaliert. Das wäre ein absoluter Party-Crasher, aber aus aktueller Sicht wenig wahrscheinlich.

comdirect: Sind Aktien also auf mittlere und lange Sicht alternativlos?

Robert Halver: Alternativlos ist ein Wort, das ich ungern gebrauche. Aber de facto führt kein Weg an Aktien vorbei. Die Zinslandschaft wird wohl zu meinen Lebzeiten nicht mehr viel attraktiver werden. Die Weltwirtschaft dagegen schon. Seit den 1980er-Jahren haben die Aktienmärkte mit zwischenzeitlichen Dellen immer angezogen. Trotz aller Risiken würde es mich sehr wundern, wenn der Aktienmarkt jetzt nachhaltig fiele. Per Sparplan können Anleger auch mit kleineren Beträgen profitieren. Einfach breit streuen und laufen lassen. Sollten die Börsen dann im Sommer einbrechen, kauft man zu niedrigen Kursen ein. Auf diese Weise kann man selbst vom Sommerloch profitieren.

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