Interview: „Sell in May? Nicht jede Börsenweisheit funktioniert“

Key Takeaways
  • Sell in May? Nicht jede Börsenweisheit funktioniert!
  • In den USA ist der Zinszyklus beendet, in Europa recht bald.
  • 2024 ist mit einer weltkonjunkturellen Erholung zu rechnen.
  • Zwischenzeitliche Rückschläge sollten Anleger für Zukäufe nutzen
Portraitbild von Rober Halver, Börsenkolumnist
Portraitbild von Rober Halver, Börsenkolumnist
Robert Halver
Börsenkolumnist
Seit 15 Jahren schätzt Robert Halver als Leiter der Kapitalmarktanalyse der Baader Bank die Lage an den internationalen Finanzmärkten ein. Zuvor war er sieben Jahre als Direktor bei der Schweizer Privatbank Vontobel tätig.

Herr Halver: Trotz der Belastungen durch den russischen Krieg gegen die Ukraine, anhaltende Zinserhöhungen und Rezessionssorgen haben die Börsen seit Jahresbeginn ihre Erholung fortgesetzt. Worin sehen Sie die Gründe?

Die Börsianer haben inzwischen eine solide Hornhaut gegen die Krisen entwickelt. Schließlich sind wir seit 2008 nahezu permanent im Krisenmodus. Außerdem ist die Inflationsrate weltweit zwar weiterhin hoch, aber die Inflations- und Zinsängste haben zuletzt abgenommen. Da machen sich die niedrigeren Energiepreise bemerkbar. Und schließlich hat die Abkehr von der No-Covid-Politik China wieder ins Boot gebracht. Chinas BIP-Zahlen für das Jahresanfangsquartal markieren mit 4,5 % nach zuvor 2,9 % ein eindrucksvolles Wirtschafts-Comeback. Dieses Wachstum macht auch für die aktuell stagnierenden Industrie- und Exportländer Hoffnung.

Jetzt naht aber mit dem Mai die traditionell schwächere Börsenzeit. Sollte man das alte Sprichwort „Sell in May and go away“ beherzigen und aufgelaufene Gewinne mitnehmen?

Die Regel stammt aus den Urzeiten des Kapitalismus. Sie kann funktionieren, muss es aber nicht. Überhaupt, wäre es mit dem Ausstieg im Mai und dem Wiedereinstieg im September so einfach, gäbe es nur noch Aktien-Millionäre. Natürlich können die Kurse nach dem starken Jahresbeginn in den nächsten Monaten durchaus nachgeben. Das hängt von der konkreten Datenlage ab. Doch sind die Märkte in Wartestellung und erwarten die Zinswende. Und wenn sie kommt, bessert sich die Laune: Die stärksten Pluszeichen an der Börse gibt es nicht unbedingt im Konjunkturboom oder in bestimmten Monaten, sondern wenn die Notenbanken offensiv werden und Geld möglichst billig verteilen – also so etwas wie „Freibier für alle“ versprochen wird.

Macht Ihnen das aktuelle Nullwachstum keine Sorgen?

In der Tat sehen Anleger die Konjunkturerwartungen für die kommenden sechs Monate wieder etwas skeptischer. In den USA lässt die Stimmung in der Industrie und bei den Dienstleistern nach und auch der Arbeitsmarkt verliert an Robustheit. Entsprechend lässt die Preisgestaltungsmacht der Firmen nach und die Gewinne kommen unter Druck. Doch immerhin haben die Gewinnerwartungen weltweit ihre Talsohle durchschritten und zeigen für die nächsten zwölf Monate in den USA, der Eurozone und Deutschland wieder aufwärts. Das liegt auch daran, dass 2024 die Weltwirtschaft freundlicher aussehen wird.

Wird die immer noch hohe Inflation die Notenbanken nicht von einer allzu raschen Zinswende nach unten abhalten?

International deuten sich merkliche Preisentspannungen an. Das zeigt zum Beispiel der Citigroup Inflation Surprise Index. Er misst die Abweichung der tatsächlichen Inflation von den Schätzungen der Volkswirte. Inzwischen liegt die wirkliche Inflation unter den Erwartungen. In den USA haben sich Inflation und Leitzinsanhebungen zuletzt „berührt“. Darauf folgte historisch wenige Monate später die Zinswende nach unten. Auch in Deutschland hat sich der Anstieg der Produzentenpreise im März von 15,8 % auf 7,5 % mehr als halbiert.

Ist der Zinszyklus also bald beendet?

Ja, zuerst in den USA. Die US-Notenbank hat traditionell die Realwirtschaft stark im Blick. Da gibt es aktuell strukturelle Risiken wie die Überschuldung, die gravierende Kreditabhängigkeit der Wirtschaft und die schlummernden Bankenprobleme. Daher dürfte nach der letzten Zinserhöhung am 3. Mai um 25 Basispunkte im Herbst die Zinssenkungsrunde beginnen. Die EZB hat mit den Zinserhöhungen deutlich später angefangen. Entsprechend erwarte ich bis zum Sommer noch drei weitere Anhebungen zu je 25 Basispunkten. Mit dann 4,25 % dürfte aber das Maximum erreicht sein. Im historischen Vergleich ist das nicht wirklich hoch. 

Deutschland und Europa haben an den Börsen seit Oktober 2022 besonders gut abgeschnitten. Was sind für Sie die Gründe und hält der Trend an?

Europa hatte zuvor unter dem massiven Anstieg der Energiepreise besonders stark gelitten. Wir liegen eben näher am Konfliktherd Ukraine und waren abhängig vom billigen Erdgas aus Russland. Die Entspannung an den Energiemärkten kommt uns aber seit dem Herbst vergangenen Jahres zugute. Zudem sind die europäischen Aktien im Vergleich zu den US-amerikanischen Werten niedriger bewertet. Vor allem in Deutschland und Europa gibt es zahlreiche zyklische Aktien, die lange Zeit darben mussten. Sie werden von einer Erholung der Wirtschaft im kommenden Jahr jedoch profitieren.

Wie sieht es in den USA aus?

Die Tech-Aktien haben 2022 unter der Zinswende besonders stark gelitten. Entsprechend haben sie Aufholpotenzial und dieses Potenzial im ersten Quartal bereits mit einem Plus von 20 % im NASDAQ unterstrichen. Der Trend wird sich mittelfristig fortsetzen. Denn die Branche verfügt unter anderem mit dem Cloud-Computing, Sicherheitssoftware und künstlicher Intelligenz über sehr intakte Geschäftsmodelle, die die Zukunft eindeutig prägen werden. Ermutigende Signale kommen zudem von den großen US-Banken, die trotz der jüngsten Turbulenzen ihre Ausblicke mindestens bestätigten. Im Übrigen wird man eine neue Bankenkrise nicht zulassen können. Das wäre der Super-GAU für die US- und internationalen Finanzmärkte und die Weltkonjunktur.

Können die Emerging Markets nach einem schwachen Jahrzehnt aufholen?

Chinas Öffnungspolitik macht sich bezahlt. Triebfeder der Erholung ist der Nachholeffekt der bislang darbenden Binnenkonjunktur und eine Stabilisierung des Immobiliensektors. Zudem behält im Gegensatz zu den großen westlichen Notenbanken die People’s Bank of China ihre lockere Ausrichtung bei. Von einem chinesischen Wiederaufschwung profitieren aber auch die asiatischen Nachbarstaaten – und natürlich auch zyklische deutsche und europäische Werte. Ein Schlag würde China und den Weltbörsen versetzt, wenn es zu einer Eskalation im China-Taiwan-Konflikt käme. Daran glaube ich allerdings nicht. China würde sich selbst schädigen, moralisch und wirtschaftlich. Auf der Vernunftebene spricht viel für eine hart geführte, aber friedliche Koexistenz zwischen Amerika und China.

Bei Nullzinsen schienen Aktien alternativlos. Halten Sie Anleihen bei den gestiegenen Zinsen wieder für interessanter?

Nicht wirklich. Angesichts der überbordenden Staatsschulden können die internationalen Notenbanken eine strikt stabilitätspolitische Strategie nicht lange durchhalten. Im Gegenteil, auch in Europa setzt die Politik auf Entschuldung über Inflation. Dieses Prinzip der finanziellen Repression funktioniert nur, wenn die Inflationsrate oberhalb der Zinsen liegt und bleibt. Dafür wird alles getan, weil jetzt ja auch noch massive staatliche Investitionen in Digitalisierung und die Klimawende anstehen. Wie sollte etwa Italien das finanzieren? Die Attraktivität von Zinspapieren als Alternative zu Aktien hält sich in engen Grenzen. Das würde sich erst bei positiven Realzinsen ändern – und die halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Über Unternehmensanleihen könnte man aber nachdenken, die bei konjunktureller Beschleunigung profitieren.

Was wäre eine Alternative außerhalb des Aktiensektors?

Gold! Zurzeit pendelt es um sein Allzeithoch. Mit rückläufigen Sorgen über eine Bankenkrise lässt zwar die reflexartige Flucht in den sicheren Anlagehafen nach. Das ist aber kein nachhaltiger Dämpfer. An den Terminmärkten wird weiter auf steigende Preise spekuliert, zumal ein positiver Realzins als „natürlicher Feind von Gold“ nicht in Sicht ist. Die Goldnachfrage der Staaten steigt – in den USA, aber auch in Indien und China, wo der Staat seine Reserven auch ideologisch ungern in amerikanische Anleihen investiert. Mit einer wirtschaftlichen Erholung wird auch die private Goldnachfrage wieder zunehmen. 5 bis 10 % Gold-Anteil am liquiden Vermögen machen Sinn. Gold hat eine einzigartige Werterhaltungsfunktion.

Gehen die bisher so positiven Frühlingsgefühle in die Verlängerung und wird es an den Börsen ein Traumjahr?

Kurzfristig signalisieren die Märkte eine Überhitzung, mit einer vorübergehenden Abkühlung an den Aktienmärkten ist zu rechnen. Konsolidierungen sind aber nichts Ungewöhnliches und sogar gesund. Zwischenzeitliche Rückschläge sollten Anleger für Zukäufe nutzen. Regelmäßiges Ansparen macht wetterunabhängig und über Sparpläne sammeln Anleger dabei im Sommer sogar mehr ein, falls die Kurse fallen. Passend zur Grillsaison sage ich für 2023: Ein Rinderfilet wird das Börsenjahr vielleicht nicht, aber für ein gutes T-Bone-Steak sollte es in jedem Fall reichen.

Bei diesem Interview handelt es sich um einen redaktionellen Beitrag, der nicht die Meinung der comdirect – einer Marke der Commerzbank AG – wiedergibt. Die Auswahl der Wertpapiere und sonstigen Finanzinstrumente stellt kein Angebot, keine Aufforderung oder Empfehlung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten dar. Aktien unterliegen Kursschwankungen; damit sind Kursverluste möglich. Bei Wertpapieren, die nicht in Euro notieren, sind zudem Währungsverluste möglich. Die frühere Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Stand: 10.05.2023. Quelle: comdirect.de

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