

Herr Schilling, das Börsenjahr hat hervorragend begonnen. Haben Sie damit gerechnet?
Nicht wirklich. Ende September sahen die Fondsmanager alles tiefschwarz und hatten sehr hohe Kassenquoten: Da war klar, dass das vierte Quartal ein gutes würde. Denn ein solcher Pessimismus ist meist ein Grundstock für eine rasche Erholung, die dann ja auch gekommen ist. Mit einer beschleunigten Fortsetzung und einem so fulminanten Start ins neue Jahr konnte aber niemand rechnen. Inzwischen liegt der DAX mehr als 20 % über dem Stand vom September. Das ist per Definition bereits eine Hausse.
Gemeinhin gibt der erste Monat oft den Ton für das Jahr an. Sehen Sie das auch 2023 so?
In der Tat schauen Börsianer gebannt auf den Jahresstart. Dass gute erste Börsentage zwangsläufig ein tolles Gesamtjahr bedeuten, lässt sich statistisch nicht ganz halten. Aber es gibt noch zwei weitere positive Zeichen. So folgt nach einem sehr schwachen Börsenjahr selten ein zweites sehr schwaches. Außerdem befinden wir uns im Jahr nach der US-Zwischenwahl, das traditionell überdurchschnittliche Performances bringt. Also gibt es schon drei technische Argumente für steigende Kurse. Zudem geht die Inflation weltweit aufgrund der Basiseffekte zurück, sodass die Zentralbanken nicht mehr so stark an der Zinsschraube drehen müssen.
Schon im letzten Quartal 2022 haben europäische Aktien weit stärker aufgeholt als US-Werte. Woran liegt das?
Über Jahre wollten internationale Fondsmanager europäische Werte kaum anpacken. Sie waren daher dramatisch untergewichtet. Jetzt sprechen drei Argumente für Europas Bluechips: Zum einen ist der Euro wieder etwas stärker und attraktiver geworden. Zum Zweiten liegen die Energiepreise inzwischen schon unter dem Niveau vor dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Das hilft der rohstoff- und energieintensiven Chemie-, Auto- und Maschinenbauindustrie. Und schließlich wurden Technologieaktien entzaubert. Folgerichtig bauen die Fondsmanager ihre dramatische Untergewichtung in Europa etwas ab.
Bleiben die Aussichten überdurchschnittlich gut – auch wenn die Zinsen hier noch länger steigen als in den USA?
Vorerst ja. So viel länger wird der Zinszyklus in Europa nicht anhalten. Aber der Krieg ist noch nicht zu Ende. Deshalb rechne ich nicht damit, dass das internationale Kapital zur historischen Durchschnittsgewichtung zurückkehrt. Ob es das langfristig überhaupt tut, ist fraglich: Denn die Bedeutung Europas schwindet. Das wertvollste Unternehmen unseres Industrie-Kontinents ist heute ein Handtaschenhersteller wie LVMH. Und die deutsche Vorzeigeindustrie, der Automobilbau, befindet sich im Visier der Teslas dieser Welt. Vielleicht können sich Daimler, BMW und Volkswagen behaupten. Aber sicher ist das nicht.
Die NASDAQ hat 2022 am meisten verloren. Ist die Herrlichkeit von Technologie-Aktien angesichts der höheren Zinsen vorbei?
Die 2010er-Jahre gehörten den Technologiewerten, allen voran den FAANG-Aktien Facebook/Meta, Amazon, Apple, Netflix und Google/Alphabet. Diese Unternehmen sind zum Teil immer noch beeindruckende Technologieführer und können auch weiterhin Innovationstreiber sein. Ob sich das auch in anhaltend steigenden Kursen niederschlägt, wage ich zu bezweifeln. Die Historie lehrt: Die Gewinner eines Jahrzehnts sind selten die Gewinner des nächsten. Alle Anleger mit einem Faible für Tech sind schon längst im Markt. Wo sollen die neuen Kurstreiber herkommen? Deshalb glaube ich, dass der Tech-Sektor allenfalls durchschnittlich abschneiden wird.
China hat im vergangenen Jahr enttäuscht. Kann sich das mit der Aufgabe der No-Covid-Politik ändern?
Ja. Es geht gar nicht anders. Ich sehe einen starken Nachholbedarf in den nächsten zwölf bis 24 Monaten. Ein Wiedererstarken Chinas hilft der nationalen, aber auch der globalen Wirtschaft. Allerdings werden die Trends zur Re-Nationalisierung, Neuordnung der Lieferketten und der anhaltende Konflikt mit den USA China langfristig belasten. Für Börsianer erscheinen die Chancen in asiatischen Nachbarländern wie Indonesien, Malaysia oder Vietnam größer.
Also kommt nach dem amerikanischen nicht unbedingt das chinesische Jahrzehnt. Welches Thema könnte die Finanzmärkte dominieren?
Erneuerbare Energien und Rohstoffe.Rohstoffunternehmen sind günstig bewertet und haben einen enormen Cashflow. Der nachhaltige Umbau und die Elektrifizierung erfordern Unmengen an Rohstoffen. Ein Beispiel: Wir brauchen in 30 Jahren so viel neues Kupfer, wie in der ganzen Geschichte benötigt wurde. In einer einzigen Windturbine etwa sind je nach Größe vier bis zehn Tonnen Kupfer verbaut. Und in einem handelsüblichen Smartphone findet man 62 verschiedene Metalle. Dieser Bedarf muss gedeckt werden – auch wenn einige Minenbetreiber unter ESG-Gesichtspunkten noch Schmuddelkinder sind.
Die Zinsen sind wieder da. Sehen Sie nach den rabiaten Verlusten des Vorjahres wieder Chancen bei Anleihen?
So schlimm wie 2022 wird es nicht noch einmal. Aber immer noch unterliegen viele Anleger der Nominalillusion. 2 oder 3 % Zinsen nutzen wenig bei einer deutlich höheren Inflationsrate. In der Realität wird man dann langsam enteignet. Die Inflation geht zwar wegen der Basiseffekte bei den Energiepreisen zurück, jedoch nicht mehr unter 2 %. Die Staaten wollen das auch gar nicht, weil sie sich bei negativen Realzinsen auf Kosten der Bürger entschulden können. In Europa wird die Geldentwertung mittelfristig tendenziell bei 4 bis 6 % liegen. Aber die Nullzinszeit hat immerhin ein Umdenken in Gang gesetzt. Noch nie war der Anteil der Aktionäre so hoch wie 2022, vor allem unter den Jüngeren.
Trotz des Kriegs und der dramatisch gestiegenen Inflation blieb der Goldpreis lange nahezu konstant. Ein schwächerer Dollar ist tendenziell gut für Gold. Könnte sich der jüngste Aufwärtstrend fortsetzen?
Ich glaube ja. Der charttechnische Abwärtstrend beim Gold ist gebrochen. Die für die Förderkosten sehr wichtigen Energiepreise sind gesunken. Es könnte also durchaus eine Kursrally geben, vor allem wenn die Zinsen 2023 nicht nennenswert steigen. Als Inflationsschutz ist Gold zudem gut geeignet. Physisches Gold oder XETRA-ETFs können als Absicherung eingesetzt werden. Goldminenaktien bieten für offensive Anleger einen aussichtsreichen Hebel.
Da braucht man also gar keinen Bitcoin oder andere Kryptowährungen?
Wer mag das heute beurteilen? Ich bin kein Prophet und weiß nicht, ob sich Kryptowährungen durchsetzen werden. Aber Bitcoin ist durchaus eine attraktive Option. Angenommen, Bitcoin erreicht die Marktkapitalisierung der weltweiten Goldbestände. Dann entspräche der Wert eines Bitcoins rund 250.000 Dollar. Ich habe also auf der einen Seite das Risiko des Totalverlusts, auf der anderen Seite die Chance auf eine Verzehnfachung. Das ist durchaus attraktiv – aber nur als kleine Beimischung im Depot.
Wo sehen Sie die größten Risiken für das laufende Jahr?
Eine Eskalation des Ukraine-Kriegs. Aktuell ist das Thema an den Kapitalmärkten in den Hintergrund gerückt. Aber die Gefahr ist latent. Die zweite Gefahr sehe ich in einer zu frühen Lockerungspolitik der Notenbanken. In den 1970ern hat man das gemacht und eine zweite Preiswelle bekommen. In diesem Fall müsste hart gebremst werden mit der Folge einer großen Rezession. Ein kleiner Rückgang der Wirtschaft wie aktuell ist dagegen kein Problem. Die Unternehmen machen das richtig gut und schmelzen gerade etwas vom Speck der fetten Jahre ab. Und Entlassungen wie jetzt bei den Hightechs sind bei annähernder Vollbeschäftigung nicht gravierend. Es gibt keine Massenarbeitslosigkeit, eine leichte Rezession wird der Bürger kaum merken.
Und wie wird der deutsche Aktienmarkt jetzt das Jahr 2023 bewältigen?
Im Januar hat der DAX fast zweistellig zugelegt. In diesem Maße kann er nicht weitersteigen. Aber wenn die ganz bösen Überraschungen ausbleiben, wird der breite Markt interessant bleiben. Der DAX wird 2023 seinen bisherigen Rekord brechen. Ob die Höchstnotierungen am Jahresende stehen werden, ist offen. Aber höher als am Jahresanfang dürfte der DAX in jedem Fall notieren.
Bei diesem Interview handelt es sich um einen redaktionellen Beitrag, der nicht die Meinung der comdirect – einer Marke der Commerzbank AG – wiedergibt. Die Auswahl der Wertpapiere und sonstigen Finanzinstrumente stellt kein Angebot, keine Aufforderung oder Empfehlung zum Kauf oder Verkauf von Finanzinstrumenten dar. Aktien unterliegen Kursschwankungen; damit sind Kursverluste möglich. Bei Wertpapieren, die nicht in Euro notieren, sind zudem Währungsverluste möglich. Die frühere Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Wertentwicklung. Stand: 12.02.2023; Quelle: comdirect.de