Berenberg-Chefanlagestratege Bernd Meyer über den rasanten Verlauf der Corona-Pandemie, die aktuellen Folgen für die Welt und wann es in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten wieder aufwärtsgehen könnte.
Professor Dr. Bernd Meyer
Professor Dr. Bernd Meyer beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit empirischer Kapitalmarktforschung. Seit 2017 ist er Chefanlagestratege und Leiter Multi Asset im Wealth and Asset Management bei der Berenberg Privatbank.
comdirect: Herr Professor Meyer, die Corona-Pandemie ist in vollem Gange und bremst die Wirtschaft fast in den Stand. Wie schlimm trifft der ökonomische Einbruch Deutschland und die Welt?
Professor Dr. Bernd Meyer: Europa ist zum neuen Epizentrum der Pandemie geworden. Aber auch in den USA steigen die Fallzahlen rasch an. Um das weitere Ausbreiten des Virus zu verlangsamen, haben viele Länder binnen weniger Tage die Bewegungsfreiheit ihrer Bürger und das öffentliche Leben erheblich eingeschränkt – ein Shutdown ohne historisches Vorbild. Die Folgen sind erheblich. Während die Einschränkungen in voller Schärfe in Kraft sind, dürfte die Wirtschaftsleistung in den Monaten März bis Mai weit schneller zurückgehen als in der großen Finanzkrise im Herbst und Winter 2008/2009. Damals lag der Einbruch bei 7 %. Ich will mich nicht am Wettlauf beteiligen, wer die schlechteste Prognose abgibt: Aber in Friedenszeiten ist das ein historisch einmaliger Schock.
comdirect: Hat die Politik wirtschaftspolitisch richtig reagiert?
Professor Dr. Bernd Meyer: Ja. Die Pandemie trifft die Realwirtschaft gleichermaßen auf der Angebots- und Nachfrageseite. Dagegen ging die Krise 2008/2009 im Wesentlichen vom Finanzsektor aus und konnte deshalb mit dem Einsatz finanzieller Mittel der Notenbanken gestoppt werden. Jetzt reicht das nicht. Und neben den Notenbanken hat auch die Politik weltweit umgeschaltet auf „whatever it takes“. Diese konzertierte politische Reaktion sollte auf Dauer einen positiven Effekt haben.
comdirect: Reichen die Maßnahmen in Deutschland aus?
Professor Dr. Bernd Meyer: Die deutsche Regierung tut alles, um Liquiditätsengpässe in Industrie und Handwerk zu bekämpfen und mit dem Kurzarbeitergeld den Arbeitsmarkt zu stabilisieren. Zur Bewältigung der Corona-Krise spannt der Bund jetzt einen Schutzschirm für Unternehmen im Volumen von 600 Milliarden Euro auf. Wenn nötig, wird es wohl auch mehr geben. Bei allen Problemen, das Geld pünktlich und passgenau in die Wirtschaft zu geben – wir gehen davon aus, dass nach dem Ablauf der Pandemie keine große Finanzkrise folgen wird.
comdirect: Womit rechnen Sie für die nächsten Wochen und Monate?
Professor Dr. Bernd Meyer: Die Hoffnung auf einen V-förmigen Verlauf der Rezession ist gering – also dafür, dass nach einem drastischen Einbruch eine sehr starke Erholung folgt. Dafür ist das Ausmaß des Shutdowns zu groß. Außerdem muss damit gerechnet werden, dass die Wirtschaftstätigkeit nur schrittweise gesteigert werden kann. Das sieht man aktuell in China. Auch ein Wiederaufflammen des Virus und ein erneuter Rückschlag für die Wirtschaft sind möglich. In unserem Basisszenario rechnen wir damit, dass möglicherweise im Mai erste Lockerungsschritte kommen könnten.
comdirect: Wann könnte dann die Wachstumslücke wieder geschlossen werden?
Professor Dr. Bernd Meyer: Es gibt voraussichtlich zwei große gegenläufige Effekte: Unternehmen und Haushalte dürften mehr Kasse halten. Große Investitionen könnten sich dadurch verzögern. Andererseits haben wir voraussichtlich für eine sehr lange Periode eine stimulierende Geldpolitik und nachhallende Impulse der Fiskalpolitik. Dazu kommen Nachholeffekte und der niedrige Ölpreis. Wenn das Virus besiegt ist, kann der Wiederaufschwung dynamisch werden. Insgesamt dürfte es aber sicherlich zwei Jahre dauern, bis die Wirtschaftsleistung und das Bruttoinlandsprodukt wieder das Niveau aus der Zeit vor dem Ausbruch der Krise erreichen.
comdirect: 2020 wird für die Staaten sehr teuer. Deutschland kann die Kosten wohl schultern. Wie sieht es in anderen europäischen Ländern aus?
Professor Dr. Bernd Meyer: Der Corona-Schock wird lang anhaltende Folgen für die Staatsschulden haben. Alle europäischen Länder werden in einem Jahr, in dem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 5 % oder mehr sinken könnte, enorme Schulden machen müssen. In Italien, Spanien und einigen anderen Ländern könnten die Budgetdefizite 10 % des BIPs übersteigen. Für Deutschland ist das zu verkraften, weil in den vergangenen Jahren die Staatsschulden zurückgeführt wurden und sich Deutschland zudem zu Nullzinsen verschulden kann. Für europäische Länder mit einem höheren Ausgangsniveau beim Staatsdefizit ist das schwieriger oder nur mit deutlichen Risikoaufschlägen möglich.
comdirect: Können da nur noch Corona-Anleihen Italien und Co vor dem Staatsbankrott retten?
Professor Dr. Bernd Meyer: Mehr als je zuvor brauchen die Mitglieder der Eurozone Kredite zu erträglichen Konditionen. Wir gehen inzwischen mit einer mehr als 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es eine europäische Lösung geben wird. Die sollte man jedoch zeitlich bis Ende 2020 begrenzen und statt „Eurobonds“ eher „Corona-Bonds“ nennen. Ein solcher Sonderfonds müsste ein Volumen von mindestens 500 Milliarden Euro haben. Der deutsche Bundestag sollte einem solch einmaligen und zeitlich begrenzten Projekt zustimmen. Es wäre ökonomisch sinnvoll und gleichzeitig auch ein wichtiges Signal, dass Europa die Krise gemeinsam meistern will. Die politischen Hürden sind hoch. Aber in „Whatever it takes“-Zeiten können solche Tabus auch in Deutschland gebrochen werden.
„Für eine nachhaltige Erholung sind aus meiner Sicht aber positive Zeichen in Sachen Pandemie erforderlich – also wenn sich eine Abschwächung bei den Infektionszahlen abzeichnet und die Wirtschaft langsam wieder hochgefahren werden kann.“
Professor Dr. Bernd Meyer
Chefanlagestratege und Leiter Multi Asset im Wealth and Asset Management, Berenberg Privatbank
comdirect: Anfang des Jahres standen alle Börsenampeln auf „Grün“ – jetzt gab es ein Massaker. Hat Sie das Ausmaß der Korrektur überrascht?
Professor Dr. Bernd Meyer: Wir haben mit dieser Pandemie eine historisch einmalige Situation, die auch an den Börsen einmalige Auswirkungen hat. Die Volatilität ist auf Werte gestiegen, die es zuvor nur in der Finanzkrise 2008, 1987 und nach dem Schwarzen Freitag 1929 gegeben hat. Die Rasanz des Kursabsturzes ist sogar ohne Beispiel. Der S&P 500 hat binnen 22 Handelstagen 30 % seines Wertes verloren – 2008 hat er dafür 250 Handelstage gebraucht. 2020 ist es bereits zu 40 Extrembewegungen in verschiedensten Anlageklassen gekommen – fast doppelt so viele wie im gesamten Krisenjahr 2008.
comdirect: Woran liegt das?
Professor Dr. Bernd Meyer: Die anderen großen Krisen, insbesondere 1929, waren ebenfalls gewaltig. Aber sie haben sich insgesamt doch langsamer entwickelt als die aktuelle Pandemie. Ein plötzlicher Shutdown fast der gesamten Weltwirtschaft binnen weniger Tage ist einzigartig. Dazu kommt die Marktstruktur. Viele institutionelle Anleger sind mit regelbasierten und trendfolgenden Systemen im Markt aktiv. Wenn gewisse Barrieren überschritten sind, lösen sie ihre Positionen auf und verstärken den Trend.
comdirect: Erstklassige Anleihen und Gold gelten als Krisenwährungen. Aber auch deren Preise gerieten unter Druck. Warum?
Professor Dr. Bernd Meyer: Es gibt einige Investoren, die angesichts des Kapitalbedarfs der Staaten auf künftig steigende Zinsen setzen. Viel wichtiger aber ist der Liquiditätsbedarf großer Anleger. In der Krise sind viele Assets wie hochverzinsliche Unternehmensanleihen nur noch schwer handelbar. Wenn Investoren dann Liquidität brauchen, müssen sie verkaufen, was immer einen Markt hat: erstklassige Staatsanleihen und Gold. So kam Druck auf deren Preise. Dieser Druck hat aber bereits nachgelassen. Ein ähnliches Phänomen haben wir auch in der Finanzkrise 2008 gesehen – anschließend aber stiegen die Anleihekurse und der Goldpreis deutlich an.
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comdirect: Ist an den Aktienmärkten eine Bodenbildung in Sicht?
Professor Dr. Bernd Meyer: Die Bewertungen sind inzwischen schon sehr niedrig. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse im S&P 500 und im Euro STOXX 50 liegen deutlich unter ihrem historischen Durchschnitt. Das Kurs-Buchwert-Verhältnis im EuroSTOXX 50 notiert nahe 1,0 und damit fast so tief wie in der Finanzkrise, und die durchschnittliche Dividendenrendite liegt 5,5 Prozentpunkte höher als die Rendite einer zehnjährigen Bundesanleihe. Selbst wenn sich die Dividenden für 2020 halbieren, gibt es immer noch einen relativen Bewertungsvorsprung für Aktien gegenüber Anleihen. Zudem ist die Unterstützung von Politik und Zentralbanken nahezu grenzenlos. Die panische Börsenreaktion im Monat März legt eine Gegenbewegung nahe und die Positionierung der Anleger ist ebenfalls extrem pessimistisch. Die Märkte haben sich vor diesem Hintergrund stabilisiert. Dennoch könnten sie durchaus noch einmal 10 % unter ihre bisherigen Tiefs fallen, wenn es etwa schlechte Nachrichten von der Pandemie gibt. 1987 und 1929 wurden die Tiefstände zumindest nochmals getestet.
comdirect: Und wann geht es wieder richtig aufwärts?
Professor Dr. Bernd Meyer: Kleinere Erholungsrallys sind auch jetzt schon möglich. Für eine nachhaltige Erholung sind aus meiner Sicht aber positive Zeichen in Sachen Pandemie erforderlich – also wenn sich eine Abschwächung bei den Infektionszahlen abzeichnet und die Wirtschaft langsam wieder hochgefahren werden kann. Dann folgen zwar erst noch einmal katastrophal schlechte Quartalsergebnisse. Aber erfahrene Anleger schauen schon in Richtung 2021 voraus und engagieren sich wieder.
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